Drämmli Glosse
Trämlervater im grünen Blech
Wenn einer sagt: "der ist mit dem Sechsertram durch die Kinderstube gefahren", so trifft dies bei mir zu. Sprichwörtlich. Denn das Sechsertram hat meine Kindheit geprägt. Mein Vater war eigentlich gelernter Zinngiesser. Er hat als letzter Zinngiesser-Lehrling in Basel die Lehre gemacht - und in Zürich abgeschlossen. Später hat er für Freunde und Familie Zinnkannen gegossen und die allerschönsten Zinnfiguren von Hand geschaffen. Aber das war Hobby, Kunstwerk für den Hausgebrauch. Wie alle jungen Männer nach dem Krieg lungerte er während der Arbeitslosenzeit darauf eine Anstellung beim Staat zu ergattern. Und die bekam er. Als Trämler.
Meine allerfrühsten Tramerinnerungen sind somit das Stubenfenster und meine Mutter, die mich auf dem Arm hielt. Von weitem schon hörte man das Klingeln des Sechsertrams, das da durch die Allschwilerstrasse brauste. Wenn dieses Klingeln ertönte, liessen die Frauen der Familie alles liegen, rannten zum Fenster und winkten über die Oekolampad-Anlage dem grünen Schlitten zu. Vorne sass mein Vater mit der damals noch hohen Trämlermütze. Er winkte aus dem Fenster zurück. Und war der König im grünen Blech.
Meine Mutter zog sich dann leicht eingeschnappt vom Fenster zurück und zischelte zu meiner Oma: "Er hatte wieder zwei Frauen neben sich..." Das war die Begleitmusik zum Sechsertram - denn Sechserträmlern haftete eine unglaubliche Anziehungskraft auf weibliche (und auch ein paar wenige männliche) Passagiere an. Da konnte lange ein Schildlein warnen "Das Unterhalten mit dem Wagenführer ist strengstens untersagt", die Damen liessen sich von so etwas nicht beirren. Sie brachten den Blech-Piloten hausgerührte Kugelhopfstücke und Salami-Brote - da konnten diese gar nicht anders, als den Mund aufmachen.
Mutter waren diese weiblichen Begleiterscheinungen des Trämlerberufs stets ein Dorn im Auge. "Ich pass" schon auf ihn auf, Lotti!" - dätschelte ihr Onkel Ernst, Vaters Billeteur beruhigend den Arm. Aber mit Billeteuren war's wie mit Wagenführern - sie waren konstant der Gefahr der weiblichen Anbetung ausgesetzt. Und genossen diese Gefahren.
Als ich in die Schule ins Real-Gymnasium kam, hätte ich mir alles andere als einen Trämler zum Vater gewünscht. Meine Mitschüler-Kollegen hatten Väter, die als Prokuristen, Buchhalter und Regierungsräte einem ordentlichen Beruf nachgingen - mein Vater aber fuhr konstant durch mein Leben. Und war mir stets ein paar Noten voraus. Wenn ich in Mathematik mit einer -3- abgekanzelt wurde, wusste es Vater vor mir. Mein Mathematik-Lehrer stieg nämlich stets bei ihm vorne im Tram ein. Auch e r missachtete die Vorschrift von "Die Unterhaltung mit des Wagenführers ist verboten". Nein. Dieses Weichei musste doch meinem Vater brühwarm zwischen Brausebad und Heuwaage rauszwitschern, dass ich die Hausaufgaben kaum machen und in Mathematik ungenügend abschneiden würde: "Heute hat er wieder eine -3-...". Kam mein Vater mit blitzenden Augen nach Hause, wusste ich was die Stunde geschlagen hatte: Mein Mathe-Pauker war wieder mal Sechsertram gefahren...
Ueberhaupt war mein Herr Papa wohl weitaus besser über mein Tun in der Schule informiert, als andere Erzeuger. Prokuristen- und Regierungsrats-Väter hocken von Sekretärinnen schön abgeschirmt in ihren Büros - bei meinem Vater hing wohl ein warnendes Sprechverbotsschild. Aber wenn er beim Auberg die Tramkarre anhielt, um einen meiner Mitschüler einsteigen zu lassen, so hüpfte der bei ihm zum Führerstand und schon ging's los: "Was macht denn mein Junge so in der Schule?". Die haben sich dann mit den schlimmsten Hororgeschichten über mich fürs Anhalten revanchiert.
Die Tram-Jugend hatte weitere Nachteile: oft feierten wir Heilg Abend alleine, weil mein Vater durch die Nacht fuhr. Und nun von den weiblichen Fahrgästen mit Glühwein, Weihnachtsgutzi und Stollen bestückt wurde. Wir assen bis weit in den Januar hinein von all diesen Zuckergaben, welche da heisspochende Herzen gebacken hatten. Ich hätte gerne Sonn- und Feiertage wie andere Familien gefeiert - irgendwie kam im Trämlerkreis das Familienleben einfach zu kurz. Dafür sah ich dann meinen Vater um neun Uhr morgens , wenn er vom Frühdienst mit Heisshunger heim kam, vor einem Pfännli mit Spiegeleiern hocken. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Prokuristen oder Regierungsräte um neun Uhrmorgens das Brot ins Gelbe vom Ei eintauchen - Trämler schon. Zumindest damals mein Vater. Natürlich haben wir Vater immer wieder beim Morgartendepot abgeholt. Er hat mir dann gezeigt, wo die Trämlein "schlafen" gehen - und wir gingen auch dorthin, als er zum letzten Mal den Sechser in dieses Depot fuhr. Ein paar Freunde, Trämlerkollegen und die ganze Familien-Corona standen dort - mit Blumen, einer Flasche Wein und einem Speckkugelhopf.
Wir standen nicht alleine - alle die jungen Frauen, die einst beim Führerstand geplaudert hatten , kamen ebenfalls. Es waren nun ältere Damen - aber ihre Augen funkelten den Sechsertramführer noch immer an wie einst. Als ein Radioreporter dann meinen Vater fragte, weshalb er Trämler geworden sei, überlegte er keine Sekunde: "Weil's der schöste Beruf ist - und die Leute immer happy sind, wenn Du in Deinem grünen Schlitten vorfährst!".
von -minu